Der Faktencheck im Faktencheck

Ja, die Doku „Auserwählt und Ausgerenzt“ hatte handwerkliche Mängel. Aber was der WDR als „Faktencheck“ präsentiert ist keineswegs besser. Stefan Winterbauer schreibt bei Meedia:

“Wann gab es das schon einmal, dass ein Sender eine Dokumentation mit derartig vielen Warnhinweisen und Richtigstellungen versieht? Die Ausstrahlung begann mit einer Art Warntafel vor dem Film. Während der Doku gab es immer wieder Einblendungen, dass Betroffene hier nicht gefragt worden seien. Erst der WDR habe den Beschuldigten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Und – so eine Überraschung – die nachträglich Befragten gaben alle sinngemäß zu Protokoll, dass sie ja gar nix gegen Juden haben. Entschuldigung für den Sarkasmus im vorangegangenen Satz, aber bei dieser Sache fällt es schwer, nicht sarkastisch zu werden.

[…] der nachträglich zusammengeschusterte Faktencheck [erweckt] nun selbst den Eindruck starker Voreingenommenheit. Er geht über das Korrigieren von Fakten weit hinaus. Das Ziel, den Film komplett zu diskreditieren, wird überdeutlich.“

Sechs Beispiele:

1. Der WDR behauptet, dass Abbas Behauptung, Rabbiner würden dazu aufrufen, das Wasser der Palästinenser zu vergiften, nicht antisemitisch sei. Abbas vor dem Europaparlament:

„Darüber hinaus möchte ich noch sagen, dass vor nur einer Woche einige Rabbiner in Israel ihre Regierung aufgefordert haben, unser Wasser zu vergiften, um Palästinenser zu töten. Ist das nicht eine klare Anstiftung zum Massenmord am palästinensischen Volk?“

Der Film brachte dies mit der antisemitischen Legende von den Brunnenvergiftern in Verbindung. Auch auf Wikipedia z.B. wird die Aussage von Abbas als modernes Beispiel dieser Legende aufgeführt. Laut WDR muss jedoch zwischen Wasservergiftung und Brunnenvergiftung unterschieden werden (ernsthaft!):

„Der Kommentartext fügt dem Zitat von Abbas weitere Inhalte hinzu: ‚Rabbiner planen palästinensische Brunnen zu vergiften.‘
Von ‚Brunnen‘ spricht Abbas hier jedoch nicht, auch nicht von ‚Plänen‘ der Rabbiner, das Wasser zu vergiften.“

2. Laut WDR gebe es keinerlei Belege dafür, dass die Anschläge auf das Bataclan  ein antisemitisches Motiv gehabt hätten. Auf Wikipedia werden einige der antisemitischen Drohungen aufgelistet, die dem Anschlag vorausgingen.

Welch bittere Ironie, dass die Doku auch die Frage stellt, warum es so schwer falle, antisemitische Anschläge als antisemitisch zu bezeichnen.

3. Der WDR moniert:

„Die eingeblendeten Schlagzeilen vermitteln das Bild, dass die deutsche Medienlandschaft hauptsächlich israelkritisch berichte.
Tatsächlich wird dieses Bild durch die Forschung nicht bestätigt: ‚Vergleichende Untersuchungen zeigen, dass sich beispielsweise die Berichterstattung zur Zweiten Intifada und den Gaza-Kriegen 2009 und 2012 in Qualitätszeitungen, aber auch dem deutschen Fernsehen kaum substantiell voneinander unterschieden hat und vorrangig versucht wurde, ausgewogen über die Konfliktparteien zu berichten.“

„Die Forschung?“. Andere Forscher kamen zu anderen Ergebnissen, so z.B. die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel​:

„Wir haben die Berichterstattung über den Nahen Osten mit Artikeln über die Lage der Menschenrechte und Konflikte in anderen Ländern verglichen, wie Russland, China, Saudi-Arabien und Nordkorea. Kaum eines der Länder schnitt so schlecht ab. In den Artikeln finden sich ungewöhnlich viele NS-Vergleiche, es gibt ein sehr negatives Bild des Landes.

[…] In der Schlagzeile ist Israel fast immer Aggressor, im Text selbst steht dann, dass Israel nur reagiert hat. Ein Beispiel: Vor einer Woche einigten sich die Parteien im Gaza-Krieg auf eine Feuerpause, die Hamas schoss nach einigen Stunden trotzdem Raketen ab. 80 Prozent der Schlagzeilen auf Nachrichtenseiten lauteten aber: Israel bricht Waffenruhe.“

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch der Linguist Anatol Stefanowitsch​, der 2014 die sprachliche Struktur von 170 Schlagzeilen untersuchte.

4. Im Bezug auf das Interview mit Monika Schwarz-Friesel behauptet der WDR, die Aussagen der Expertin seien in einem falschen Kontext gebracht worden. Auf der Übersichtsseite zum Faktencheck heißt es:

„Der Film stellt damit Statements von Interviewpartnern in einen antisemitischen Kontext.“

Im entsprechenden Abschnitt wird dann angeblich klargestellt:

„Die Linguistin Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel wird zu ihrer Studie zur ‚Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert‘ interviewt. Diese Studie hat sie gemeinsam mit Jehuda Reinharz 2012 publiziert.

Darin untersuchten die Wissenschaftler über 14.000 Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und an die Israelische Botschaft in Deutschland. Die Studie befasste sich folglich mit dezidiert antisemitischen Schriftstücken.“

Nein, lieber WDR: Das Geschwurbel z.B. „von Bankern von der Ostküste“ oder von einer übermächtigen „Israel-Lobby“ ist nicht nur dann antisemitisch wenn es in Texten steht, die selbst WDR-Faktenchecker als „dezidiert antisemitische Schriftstücke“ erkennen können. In einem bei der bpb veröffentlichten Text, in dem Schwarz-Friesel sich fast wortgleich wie im Interview äußerte, schrieb sie auch:

„Es zeigt sich, dass trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust immer noch seit Jahrhunderten tradierte judeophobe Sprach- und Argumentationsmuster reproduziert werden – und zwar gesamtgesellschaftlich in allen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen der Bevölkerung.“

Auch in einer Vorlesung machte Schwarz-Friesel deutlich:

Keineswegs ist Judenfeindschaft vergangen oder nur ein Randphänomen von einigen Extremisten, sondern ein höchst aktuelles Problem in der Mitte unserer Gesellschaft. Der moderne Antisemitismus, heute primär artikuliert als Anti-Zionismus und Anti-Israelismus, fußt ungebrochen auf der klassischen Judenfeindschaft, die stets und von Anfang an von den Gebildeten kam.[…] Als Verbal-Antisemitismus gelten alle sprachlichen Äußerungen, mittels derer Juden als Juden entwertet und diskriminiert werden, intentional oder nicht-intentional, explizit oder implizit.“

Übrigens: Während der WDR so tut als müsste er die Aussagen Schwarz-Friesel vor den Produzenten des Films schützen, meint die Antisemitismusexpertin über den Film:

Die Übersichtsseite des WDR-Faktencheck 

5. Mercedes Nabert​ bei den ruhrbaronen:

„In einer Liste von NGOs, denen der Film nicht die Gelegenheit zu einer Stellungnahme gab, erwähnt der WDR World Vision, mit dem Kommentar, dass sie seit 2016 nicht mehr in Gaza aktiv sei. Verschwiegen wird dabei der Hintergrund. Nach längeren Ermittlungen und der Verhaftungen eines Mitarbeiters durch Israel, aufgrund der Weitergabe größerer Summen an die Hamas, haben Regierungen wie die deutsche und die australische die Unterstützung von World Vision Gaza komplett eingestellt. Unter diesen Umständen weiter zu arbeiten — oder was auch immer die NGO dort getan hat – dürfte kein leichtes sein.“

6. Die FAZ kommentiert den Faktencheck so:

„Bei den Unruhen im Pariser Vorort Sarcelles zum Beispiel, bei denen Synagogen angegriffen wurden, wird vom WDR behauptet, es hätten nicht dreitausend Jugendliche randaliert, wie es im Film heißt, sondern nur wenige hundert. Und es sei in französischen Presseberichten auch erwähnt worden, dass die verbotene Gruppierung ‚Jewish Defence League‘ eine Rolle gespielt habe. Hier ist es schwer, sich aufgrund der Quellenlage ein Bild zu machen. Das trägt zu einem Gesamtergebnis bei, bei dem man nur in einem hundertprozentig sicher sein kann: Der WDR hat alles getan, um zu zeigen, warum der Film so nicht gezeigt werden sollte.“

Update: Weitere Beispiele gibt es bei Audiatur Online.